Invasionen des Privaten
Sie sind zu Fremden im eigenen Land geworden: Die Inuit wurden im Lauf der Kolonialgeschichte von den Dänen auf unerbittliche Weise erniedrigt, entmündigt, ihrer eigenen Kultur entfremdet. Anna Kim, 1977 in Südkorea geboren, seit 1979 in Wien lebende Autorin, hat Grönland bereist und in Nuuk, der Hauptstadt, viele Gespräche geführt. Eine aufmerksame, ethnografische, politische, philosophische, sehr persönliche Begegnung.
Kims Physiognomie ist die der Grönländer ähnlich. Aber nicht nur äußerlich ist Anna Kim den Grönländern nahe, sie fühlt sich ihnen auch durchaus seelenverwandt. Denn sie weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn man dort, wo man aufgewachsen ist, nicht dazu gehört. Den Grönländern geht es kaum anders, seit die Dänen Anfang des 18. Jahrhunderts Grönland und das lukrative Polaröl, den Tran, für sich entdeckten. Damals waren die Einwohner Grönlands »Wilde«, die nur durch vollkommene Assimilation in Sprache und Kultur an ihre Besetzer heranreichen konnten. Und auch das nur bedingt. Noch bis 2001 (!) gab es in den Kindergärten und Schulen eine »Zweiklassengesellschaft«: dänische und grönländische Klassen. Die Kinder der grönländischen Klassen kamen vorwiegend aus ärmeren Familien. Die Muttersprache der besser verdienenden Grönländer war Dänisch. Eine größere Entfremdung von der eigenen Kultur ist kaum vorstellbar. Daher auch der Titel des Essays: Wenn gesellschaftliche Verhältnisse nicht Integration, sondern Assimilation einfordern und damit das angeblich Fremde ausgrenzen, hat das »Invasionen des Privaten« zur Folge. Die Frage nach der eigenen Identität lautet dann nicht mehr: „Wer bin ich?“, sondern „Wer darf ich sein?“.
Und dennoch: Wenn Anna Kim mit einem Hundeschlitten auf dem zugefrorenen Watson fährt, erlebt sie grenzenlose Freiheit als Essenz dieses Landes. Die Art, wie sie das beschreibt, lässt auch den Leser in diesem Moment die Freiheit förmlich riechen, schmecken. Viele solcher aufmerksamen Beobachtungen machen Kims Essay zu einem Lesegenuss. Es sind unverstellte Blicke, die nichts beschönigen, sondern aufspüren, und den Bewohnern des Landes respektvoll und auf Augenhöhe begegnen.
Literaturverlag Droschl
Brtoschur: 111 Seiten, ca. € 15,-
E-Book: ca. € 11,99