Michael Köhlmeier
Wenn ich wir sage
Aus der Reihe »Unruhe bewahren«

Was ein ausgesprochenes Wir bedeuten kann, vermag sich sowohl diejenige vorzustellen, die unfreiwillig in ein solches Wir mit hineingenommen worden ist, als auch derjenige, der sich von einem Wir ausgeschlossen gefühlt hat. Michael Köhlmeier begibt sich in seinem Essay auf Wege und Abwege des Wir und fokussiert auf die Bereiche Freundschaft, Familie und Nation, die seiner These zufolge den Begriff des Wir entscheidend prägen.

Auf seinem gedanklichen Spaziergang durch die Tiefen und Untiefen des Wir lässt sich der Autor streckenweise von zwei Philosophen begleiten, nämlich von Michel de Montaigne und Ralph Waldo Emerson. Letzterer trägt vor allem zu dem Ausloten des Freundschaftsbegriffes einige außergewöhnliche Gedanken bei, unter anderem, dass sich Freunde selten auf Augenhöhe begegnen, sondern in jedem einzelnen Gespräch im ewig wechselnden Auf und Ab zwischen den Positionen des Siegers und Besiegten, Königs und Bettlers, dem Alles und dem Nichts bewegen. Was schlussendlich bedeuten würde, dass ein Wir willentlich nicht herbeigeführt werden kann, auch oder gerade nicht von Freunden.
Wo Emerson Antworten gibt, stellt Montaigne Fragen. In diesem Denkverfahren steht Köhlmeier dem französischen Denker, der den Essay – ins Deutsche übersetzt bedeutet essayer versuchen – als Gattung erfand, deutlich näher. Er erlaubt sich Fragen wie: Existiert ein naturgegebenes Wir? Ist jeder einer von uns? Dem würde der Gebrauch des Wir im Diskurs der Nationen diametral entgegenstehen. Denn: »Das Wir der Heimat bestimmt, wer dazugehört; das Wir der Nation, wer nicht dazugehört. Die Heimat schließt ein, die Nation schließt aus.«
Ein ungemein angenehmes Wir kann beim gemeinsamen Erschaffen entstehen, beim Musizieren, beim Austausch in Schreibprozessen. Das schmerzliche Wir erlebt eine Familie bei einem Verlust, der alle gleich tief trifft. Solches hat der Autor erlebt und schreibt auch davon, ohne emotionale Rührseligkeit, eher bekennend. Dieses Bekenntnis zeichnet ihn als einen aus, der bewusst erlebt und über das Bekennen des Erlebten seine Position im Denkprozess relativiert.

Es ist ein großer Genuss, Köhlmeier auf diesem Spaziergang zu folgen: zum einen sprachlich – wann haben Sie zuletzt solch treffende Worte wie »denknotwendig«, »Kuhstallwärme« oder »Begriffswäsche« gelesen? Zum anderen auch wegen des Freiraums, den der Autor für eigene Gedanken und Erfahrungen offenlässt. Ein sehr gutes Buch zum Jahresbeginn.

Residenz
Klappenbroschur, 96 Seiten, ca. € 18,-


DAS IST DRIN
Was heißt Wir?
von Integration
über Verpflichtung
zur Uniform
schlaue und präzise
formulierte Gedanken